„Seezeichen“ – grandioses Wort.
130 Jahre schon bohrt sich dieser „Leuchtfeuerträger“ in den Wattboden. Jahrzehntelang ließ er höchstens „Leuchtfeuerwärter“ an sich heran, aber niemals Touristen.
Jetzt gibt es Navis und ausgewiesene Fahrrinnen. Ausgedient hat das „Leuchtturmbauwerk“!
„Eversand-Oberfeuer“ ist sein Name. Bezirzend.
Eigentlich wollte ich um 9 Uhr losmarschieren. Der Leuchtturm in Dorum Neufeld hielt mich zurück.
Um halb zehn brach ich dann endlich auf. Ziel: Bremerhaven. Etwa 27 km entfernt.
Auf dem Deich ein Denkmal für die vielen Deichgrafen und Deichretter der Nordsee.
Als Südlandbewohner sind die verheerenden Sturmfluten der letzten Jahrhunderte nicht in meinem kollektiven (hab ich das?) Bewusstsein vorhanden.
Die Inschrift der Gedenktafel:
„Zum Gedenken an all die Menschen, die Deiche erbauten, für ihre Sicherheit im Einsatz waren oder bei schweren Orkanfluten ihr Leben ließen.
1362 Große Mandrenke
1570 Allerheiligenflut. Mehr als 100.000 Tote
1717 Weihnachtsflut (3 Tage Voller Orkan). 15.000 Tote
1825 Johannisflut. 789 Tote
1962 Schwerste Flut seit 1.825. 512 Tote
1976 Schwere Sturmfluten“
Wie friedliebend dagegen heute das Wattenmeer. Die Nordsee hatte sich wohl nach England zurückgezogen. (Stürmte es jetzt dort?)
Der Meergrund harmlos. Nie würde er Menschen verschlingen können.
Meist lief ich an der See zugeneigten Unterkante des Deiches. Streckenweise war der Deichfuß betoniert. Die Maurer hatten (abstrakten) Kunstsinn besessen.
Oben auf dem Deichkamm ab und zu regennasse Bänke, jeweils garniert mit industriegrauen Papierkörben.
Ich bemerkte Eike. Er suchte offenbar etwas Verwert- oder Essbares. Ich sprach ihn an.
Es war Eike peinlich, so erwischt zu werden.
Der Junge (wieso hatte er ein so feminines Gesicht?) war von zu Hause ausgebüchst. Harz IV Eltern, Schläge, Fernseher kaputt (oder aus dem Fenster geworfen), keine Klamotten, nur immer dieses Matrosenzeug; kurzum: Eike wollte in Bremerhaven anheuern. Egal auf welchem Schiff, egal in welchem Betrieb.
Ich nahm ihn mit.
Ich hatte Hunger. Unterwegs gab es aber nichts. Nur kleine Dörfer ohne Krämerladen, Dorfkneipe oder Menschen (ich sah jedenfalls keine).
Höchstens Kirchen. Zumindest die Aussegnungskapellen waren gebaut, jeder Sturmflut zu widerstehen. Selbst im schnellen Vorbeiwandern spürte ich hier Ewigkeit.
Auf halbem Weg nach Bremerhaven ein kleiner Kutterhafen: Wremen.
Leere Boote schwammen kopfüber im klitschigen Schlick.
Gegen vier Uhr erreichten wir (Eike und ich) die Grenze des Bundeslandes Bremen.
Der Containerhafen im Nebelkleid.
Den ganzen Tag hatte ich nichts zu hören bekommen. Nicht einmal Meeresrauschen. Kein Windgejaule. Kein Straßen- oder Autolärm.
Jetzt brummten, krachten, knallten und echoten technische Ungeheuer mit riesigen Greifarmen, die Godzilla gleich überdimensionierte Container von links nach rechts wuppten.
Noch 10 km bis ins Zentrum Bremerhavens. Entlang einer nicht enden wollenden Containerlandschaft mit trostlosen Straßen.
Industriegebiet.
Eike lachte zum ersten Mal. Hier würde er Arbeit finden, schwadronierte er.
Ich wollte ihm nicht sagen, dass in Bremerhaven gefühlt 40% der Menschen arbeitslos sind.
Auch wenn es in den Werften und Entladestellen hämmerte, quietschte, flexte, dumpf hallte und es nach frischen Schweißnähten roch.
Um 18 Uhr ein Hotel gefunden.
Durst: Ducksteiner Bier. 3,80 Euro (0,5l). Bleibender Geschmack. Leicht rauchig. Sehr angenehm. (Gibt es schon seit dem Mittelalter. Marke gehört heute der Holsten-Brauerei.)
Hunger: Grünkohl mit Mettenden und Bratkartoffeln. Bodenständig, deftig und gut. 6,90 Euro.
Für Eike, der zwei Portionen Grünkohl bestellte, orderte ich noch einen Calvados.
Unterkunft: 48 Euro (mit Frühstück). Zimmer äußerst einfach, aber sauber.