Am Morgen im Seebad Heringsdorf angekommen. Die Gemeinde hatte den Gesundheitstag ausgerufen und dazu einen Männerchor engagiert. Der durfte schon Samstag früh in der Kurmuschel dilletieren.
Seemannslieder scheinen die Venen zu weiten und das Blut flüssiger zirkulieren zu lassen. Die vorwiegend ältere Kundschaft schunkelte bereits um 11 Uhr.
Aber müssen hier alle wie Kapitän Smutje aussehen?
11 Uhr 30 lief ich von der Seebrücke los ins 26 km entfernte Zinnowitz.
Der Tag begann grau und warm. Bald sollte er ins Blaue und Heiße drehen.
Noch buddelten sich kaum Badegäste in den feinen Sand, auch wenn Heringsdorf vor Leuten fast überquoll. Einzig eine selbstbewusste Mittvierzigerin mit vornehmen Damenbauch fand sich am Textilstrand und sammelte Kieselsteine.
„Wilhelmine“ bot mir gleich das „Du“ an. Sie wollte wissen, warum ich mit so schwerem Rucksack an der Ostsee unterwegs sei und wo ich denn meine Badesachsen („sachsen“?) hätte.
Ich erklärte ihr, dass gerade die vierte Etappe meiner Deutschlandumwanderung begonnen hätte, dass ich im Mai schon einmal hier an der Heringsdorfer Seebrücke gestanden hätte, damals aber meine Tour abbrechen musste. Ich hatte mir einen Ermüdungsbruch im linken Knie zugezogen und konnte erst jetzt – 3 Monate später – die Wanderung wieder aufnehmen.
Ob denn mein Knie „nun heile“ sei? wollte Wilhelmine wissen.
„Ich hoffe“ sagte ich.
Wilhelmine beschloss, mich eine Zeit lang auf meinem Spaziergang zu begleiten. Ganz offensichtlich suchte sie einen Gesprächspartner.
Kilometerlanger weißfeiner Sandstrand.
Auf einmal eine sterbende Möwe am Ufer. In sich gekauert im Sand. Sie hatte die Flügel zu Kissen gefaltet, bettete sich in ihren letzten Minuten weich in aufgeplusterten Daunen, atmete schwer, die Augen schon glasig. Eine Frau stand neben ihr und weinte, aber sie fasste das sterbende Tier nicht an. (Ich traute mich nicht zu fotografieren!)
Ich war irritiert. Warum konnte sie den Vogel nicht so sterben lassen wie er wollte. Allein, zurückgezogen, unbeobachtet. Warum starrte sie ihn an? Warum litt sie so, dass sie sogar schluchzte?
Warum überhaupt kam keine andere Möwe, um der Sterbenden beizustehen und diese unsägliche Dame zu vertreiben? Mit ein paar Schnabelhieben? Mit einem Regen aus Kot?
Ich ging weiter. Ein ziemlich lebendiger Hund sprang mich an.
Ich dachte über das Seelen- und Gefühlsleben von Tieren nach. Menschenkinder spielen ausgelassen miteinander. Hundebabies auch, Affen-, Katzen-, Delphinbabies.
Aber hatte ich schon mal junge Vögel beim Spielen beobachtet? Oder junge Fische? Spielen Würmer miteinander? Ameisen, Spinnen, Krebse, Schmetterlinge, Skorpione?
Haben Schwarmtiere genügend Individualität, um Persönlichkeit zu entwickeln?
Persönlichkeit entwickelt sich nur übers Spielen? Intelligenz auch? Trauer ebenfalls?
Ich war in einem GedankenLabyrinth gefangen und fand nicht mehr heraus. Ich verließ den Strand und begab mich in den nahen Wald, um ein bisschen herunter zu kühlen. Das Meer noch in Sichtweite.
Meine Begleiterin bat, in den Dünen eine kleine Rast zu machen zu dürfen.
Ich fragte sie, warum ihre Mutter sie ausgerechnet „Wilhelmine“ getauft hatte.
„Nicht meine Mutter, meine Großmutter wollte das so“, entgegnete mir die Grazie.
Ihre Großmutter war schon als junges Ding in Usedom angelandet. Jeden Sommer, wenn der damalige deutsche Kaiser im Seebad Heringsdorf Zwischenstation machte, um mit der schönen Konsuls-Witwe Staudt einen Nachmittagstee zu trinken, pilgerte sie nach Heringsdorf. Mit Hunderten von Schaulustigen versuchte die Großmutter einen Blick auf Kaiser Wilhelm zu werfen. Im Jahr 1911 musste sie sogar 10 Pfennige zahlen, um in die erste Reihe zu kommen und hatte Erfolg. Tatsächlich konnte sie von der Ferne den sommerlich weiß behosten Kaiser auf der Veranda der Villa erkennen. Von dem Tag an war ihr klar, dass ihre Tochter und ihre Enkelin und überhaupt jede erstgeborene weibliche Nachkommenschaft „Wilhelmine“ heißen musste.
Und überhaupt wolle sie den Kaiser zurück!
Damals seien die Kaiserbäder in Usedom noch vornehm gewesen, heute seien es eher „Plebsbäder“.
Die Sonne hatte die Wolken weggekehrt und brannte nun erbarmungslos. Urplötzlich bevölkerte sich der Strand. Erst fast unsichtbar hinter Stoffbahnen, die wohl noch aus dem DDR-Biedermeier stammten. (Lagen da eigentlich FKK-Jünger dahinter?)
Dann wurden auch die Strandkörbe überflutet von Menschen, die ihre Strandkörper mit einem schrecklich ranzigen (Kokus?) Sonnenöl eingerieben hatten.
Oben im Küstenwald blieben die Wohnmobile verwaist zurück.
Darunter eine Rarität: ein VW-Campingbus! (Baujahr 68 – sagte mir ein Nachbar.)
Fortan bewegte ich mich nur noch im Schatten, sprich Wald.
Passierte Koserow mit seinen hübschen (musealen) reetgedeckten Salzhäuschen.
Gegen halb sieben strandete ich endlich in Zinnowitz in einem kleinen schlechtbürgerlichen Gästehaus.
Dafür ging ich aber gleich in Zentrumsnähe gutbürgerlich essen.
Hunger: Scholle Finkenwerder Art = paniert, in Speck ausgelassen mit Kartoffelpüree. 15,90 Euro.
Ein fantastisch zubereiteter Fisch. Frisch, die Panade kaum spürbar, das Schollenfleisch saftig, zart, zurückhaltend gesalzen und gepfeffert. Der Speck nicht fettig aber ungemein würzig. Das Püree ebenfalls mit Speck und ein wenig Brühe. Ausgezeichnet. Absolut das Geld wert. Selbst das Krumbacher Pils gut gezapft. Ein Genuss!
Schließlich noch die Zinnowitzer Nacht getestet:
Seebrücke mit Taucherglocke im letzten Dämmerlicht.
Marionettentheater von zwei sympathischen jungen Gauklern in die Nacht gespielt.
Ganz spät: die Strandkörbe von der Brücke aus gezählt.
Unterkunft: 35 Euro (ohne Frühstück).