
Hat alle Stürme überstanden und zeigt seine Wunden
Ich hatte sie schon vermisst: die Wegkreuze. Lange waren sie meine treuen Begleiter gewesen. Seit dem Grenzübertritt nach Sachsen waren sie aber verschwunden. Jetzt war ich erneut in Tschechien und das erste, was mir vor die Linse kam (nach den Asia-Markt-Buden selbstverständlich!), war dieses verwaschene (besseres Deutsch wäre „verwittertes“) Wegkreuz. Es stand in Cínovec, das früher einmal Zinnwald hieß. Also wieder mitten drin in der Sudetendeutschen/Tschechischen Geschichte.
Auf dem weiteren Weg passierte ich immer wieder Steinstümpfe ohne eisernes Kruzifix. Vandalen sind diese Strecke schon vor mir abgegangen.
Ich war um 9 Uhr aufgebrochen (irgendwie ist das „meine“ Zeit geworden) und hatte 34 km vor mir bis nach Ústí nad Labem (Aussig).


Beim Grenzübergang wurde ich von zwei Bundespolizistinnen kontrolliert. Sie waren auf der Suche nach illegal eingereisten Ausländern oder Schleusern. Ich erkundigte mich nach den Hauptproblemen an der Grenze: „Drogen“ (aus den Asia-Märkten), „grenzüberschreitende Kriminalität“ (Einbrüche, Diebstahl). Das normale Sortiment. Zuständig dafür waren aber Zoll und Landespolizei. Die Bundespolizistinnen schienen etwas unterbeschäftigt. Aber sie waren sehr freundlich. Bin ja schließlich auch nicht illegal ausgereist! (Geht das überhaupt? Illegal ausreisen. Früher (DDR) ja? Aber heute?)
Auf der tschechischen Seite tappte ich den Bergkamm entlang. Fast 800m hoch. Es wehte ein frischer bis eisiger Wind. Aber die Sonne begleitete mich. Kleine (noch kahle) Birkenwälder auch.

Birken warten auf Birkenblüte
Aus den Wäldern draußen: fast amerikanische Weiten in Kodachrome-Braun.

Auf fast 800m Höhe weitet sich die Landschaft

Windbäume mit Windrädern
Nach 2 Stunden ging es den Berg runter. In steilen Serpentinen. Spektakuläre Aussichten auf das Tal, die ich aber nicht fotografieren konnte, weil der Dunst da unten alles einsuppte. Ich war sauer ob der verpassten Gelegenheit (dabei hätte ich froh und stolz müssen, dass das menschliche Auge (noch) der besten Kameralinse um das Millionenfache überlegen ist!).
Da ich nicht knipsen konnte, hatte ich Zeit Gedanken nachzuhängen. Ich weiß nicht mehr warum, aber mir fiel der Skinhead ein, den ich vor über einer Woche kurz vor Aš gesehen hatte. Ein junger Mann mit extrem grobschlächtigem Gesicht, mit prekärem und aggressivem Blick. Ich dachte damals: Es ist die schlichte Dummheit, der IQ von unter 80, der ihn zum Skinhead gemacht hat (ich weiß, es gibt intelligente Skins). Das Verlangen, irgendwie zu irgendwem zu gehören.
Jetzt stellte ich mir die Frage: Kann jemand, der in allem, was er tut, „grob“ ist: wie er geht, wie er sich benimmt, wie er spricht, wie er wütet, wie er blickt, wie er spricht – kann so jemand auch „fein“ fühlen?
Jedem Hund, jeder Katze, billigen wir schnell Feinfühligkeit zu. Aber einem Grobschlächter?
Ich grübelte darüber, ob lediglich das fühlbar, was auch ausdrückbar ist?
Kann ein Proll auch galant sein? Klingt das paradox?
Wenn aber ich nur das fühlen, was ich (und sei es nonverbal) aussprechen kann, folgt daraus zwingend, dass Gefühle im Kern Gedanken sind – also Illusionen und bloße Konstrukte? (Will ich das glauben?)
Bevor ich weiter philosophieren konnte, erreichte ich Krupka (Graupen). Ein altes ehemals bedeutendes Bergbaustädtchen in Nordböhmen. Fast alle Bewohner (weil Deutsch-Böhmen) wurden nach dem Krieg vertrieben. Die leeren Häuser wurden an Familien aus dem tschechischen Landesinnern vergeben, die nie zuvor diese Gegend betreten hatten. (Ob sie mittlerweile Wurzeln geschlagen haben?)

Buntes Sudetendorf
Und immer noch führte der Serpentinenweg steil nach unten. Bis ich es endlich geschafft hatte. Von fast 800m Höhe auf 130m.
Die Berge lagen fürs Erste hinter mir.

Als wärn's die Rocky Mountains
Braun die Stoppelfelder, aber die Knospen der Weiden öffneten sich bereits. Weidenkätzchen würden bald ins Feld springen. Ich konnte es fühlen.
Vor mir dir Vorboten der Stadt Ústí nad Labem. Fast Hunderttausend Einwohner benötigen Energie und Trinkwasser. Hier gab es beides: Wasserspeicher und Kraftwerk.

Cote d'Azur Blau
Zwei Stunden fehlten noch, dann hatte ich die outskirts von Ústí nad Labem erreicht. Der Eintritt in die Stadt wie die Einfahrt in ein Chemiewerk.

Orangene Stadt
An den Werksmauern Graffiti, die ich nicht deuten konnte. (Immer schlecht, wenn Bilder nicht für sich sprechen – oder fehlt mir einfach der kulturelle Hintergrund ? Bin ja schließlich kein Tscheche!) Wer ist dieser einokulare Mensch ? Guckt er grimmig, wütend, gerissen, nachdenklich, dreist, wissend, draufgängerisch, gleich losschlagend, resigniert?

Sag mir, was soll das bedeuten !
Aber eins begriff ich (obwohl ich noch keinen interkultureller Deutsch-Tschechisch-Kurs gemacht hatte) sofort: Guck hier in den Straßen immer nach unten! Jede zweite Gullyabdeckung fehlte. Einbruch-Gefahr!

Blick nie nach oben richten !
In der Stadtperipherie unzählige Armensiedlungen (nicht Slums wie in Lateinamerika, aber äußerst heruntergekommene Straßenzüge).
Trotzdem Lebensfreude!

Hinterhofspaß

Zusammen hat einer allein mehr Freunde
Ankunft im Stadtzentrum gegen 17 Uhr 30.
Durst: Pilsener Urquell, wie fast immer – und wie immer gut und billig.
Hunger: Da kein einheimisches Lokal geöffnet hatte (Montag?), bin ich in ein kubanisches Restaurant gegangen. Ich war der einzige Gast. Auf der Karte gab es ein einziges kubanisches Gericht. Aber dafür lief ständig Buena Vista Social Club als Blubbermusik.
Essen sollte sein: „Pollo santiaguero“ – war aber ein in Ketchupsauce ertränktes rachitisches Industrie-Hühnchen. Immerhin mit kubanischem Bohnenreis („Congris“) – wenn auch zu nass. (9 Euro.)

Kubanisch ist nur das Congris
Unterkunft: Leider viel zu teuer (hatte auf die Schnelle kein anderes Hotel gefunden als das einer amerikanischen Kette).