Hansi, so wollte er nach seinem großen Vorbild genannt werden, auch wenn er bürgerlich Martin hieß.
Hansi hatte mich gestern Nacht kurz nach dem Bezahlen meiner Rechnung abgepasst. Er war der jüngste der Volksmusik-Combo und fragte mich, ob er mich morgen begleiten könnte. Er hätte den gleichen Weg. Nach Passau. Dummerweise willigte ich ein.
Hansi weckte mich bereits kurz nach 7 Uhr, um nach dem Frühstück gleich mit mir loszumarschieren. Es sollte die längste Tour der letzten Tage werden. Rund 37 km. Verdammt lang. Verdammt hart.
Im Grunde ging es die ganze Zeit immer auf dem Inn-Damm entlang. Oft kerzengerade. Kilometer für Kilometer. Ganz selten ein kleines Kürvchen

Noch 2 Schritte bis zum Horizont
Ich war guter Laune – noch! -, hatte gut geschlafen, war erholt; ich lief wie von selbst. Hansi flötete leise vor sich hin. Auf irgendeine Weise hatte es ihm das österreichische Engerl angetan. Nur die Musik, mit der er es zu umgarnen versuchte, hatte gar nichts Himmlisches. Außerhalb einer bayerischen Traditionskneipe hört sich Volksmusik einfach nur wie Lärm an. Gleichwohl: Namenlos ertrug es leidlich, eine Weile jedenfalls.

Almdödler bezirzt Engerl
Also geradeaus. Immer den Inn entlang.


Nach dem Sonnenaufgang grandiose Scherenschnitte links und rechts. Leichter Nebel, Schilf, Gebüsch, Auwald und spiegelndes Wasser.

Längster Scherenschnitt / Guinness verdächtig
Mit der Zeit glich sich alles, jede Spiegelung, jede Kurve, jeder Fernblick. Ich wollte nur noch Kilometer machen. Schritt für Schritt nach vorn.
Die Gedanken aber gingen zurück, Richtung gestern Nacht.
Unausgesprochen stand bei allen Gesprächen, denen ich im Gastzimmer meines Landgasthofes zugehört hatte, ein Thema im Mittelpunkt: das Sterben (auch wenn niemand dieses Unglückswort in den Mund genommen hatte). Die Kur, die die Gäste machten, diente nicht zur Heilung, sondern nur zur Linderung eines Schmerzes, der den Tod ankündigt. Noch gar nicht so alte Frauen, von Medikamenten aufgeschwemmt, entstellt. Nicht mehr junge Männer, in Rollstühlen, zentnerschwer. Aber alle aufblühend, solange die Musik schrammte, manche sangen sogar mit. Alle dankbar, dass sie noch atmeten. Die Musik gab ihnen ein Gefühl dabei zu sein, im Leben. Wenn auch am Rand.
Das Sterben hat mit dem Alter allerdings wenig zu tun. Außer dass es statistisch mit jedem Tag wahrscheinlicher wird.
Dem Sensemann ein Schnippchen schlagen, das wollen vor allem die, die das Alter als Krankheit mißverstehen. Auch davon gab es am gestrigen Abend reichlich Anhänger. Solche, die eine Kur gegen das Altern machten: liften, Fango packen, vegan ernähren (geht das in einer bayerischen Kneipe?). Siebzigjährige Zwillingsschwestern aus Hessen, Mittsechziger aus Köln: Niemand wollte mehr das Zauberberglein (das nahe Kurstädtchen Bad Füssing) verlassen, in der Hoffnung, die verewigte Jugend zu konservieren, aber ahnend, dass er/sie hier sterben würde. Und trotz aller echter Fröhlichkeit am gestrigen Volksmusikabend: Es lag doch eine spürbare Traurigkeit im Raum (oder in mir?).
Ich fing mit Hansi Streit an, ich hatte das ewige Gedudel satt. Wer will schon freiwillig ständig Bayerischen Rundfunk hören. Dieses Heimatgesülze wurde mir unerträglich. Während einer Pause packte ich schließlich die Ohrstöpsel meines Smartphones aus und verpaßte Hansi eine volle Dröhnung: Charles LLoyd, Trombone Shorty, Roland Schaeffer. Meine Lieblings-Jazzer und virtuose Blech-Bläser! Mit grandioser Musik.

Hansi bekommt Charles Lloyd zu hören
Hansi wurde vorlaut, meinte frech: Das sei Kunst. Die brauche er nicht zum Leben. Volksmusik sei etwas anderes. Da gehe es nicht um Erhabenes, Kunstfertiges, sondern um Geselligkeit. Deswegen funktioniere Volksmusik außerhalb der Wirtschaft und der Biergärten auch nicht richtig. Außerdem gingen jeden Tag in einem bayerischen Dorf mehr Menschen in die Wirtschaft als sonstwo in Deutschland in ein Jazz-Konzert. Und ich sei doch freiwillig nach Bayern gekommen, also müsse ich auch das Brauchtum und die traditionelle Musik aushalten.
Ab nun stopfte ich mir die Ohrstöpsel selbst in den Gehörgang, um diesen Quark nicht länger ertragen zu müssen und genoss die Fußball-Bundesliga Konferenzschaltung (auch wenn Kaiserslautern einfach nicht mehr siegen kann! Abstiegskandidat!).

FCK Ball im Wasser
Unterwegs ein Fisch-Lehrpfad, auf dem ich lernte, dass Hechte nicht nur Karpfen oder Wasservögel mögen. Sie haben sogar kleine Säugetiere, sofern sie sich im Wasser aufhalten, auf der Speisekarte. Hat das schon mal jemand gefilmt? Ein Hecht, der eine Wasserratte reißt? (Reißen Hechte? Oder schnappen sie?)
Deutsche wandern nicht nur einfach durch die Natur, sie lernen auch noch etwas dabei.
Auf einmal Ohren betäubender Lärm wie aus dem Nichts. Diesmal war es nicht Hansis Dauergedudele, sondern die nahe Inntal-Autobahn auf der österreichischen Seite, die bis an das Ufer heranführte.

Betonlandschaft Inn
Engel Namenlos fing nun auch an zu nerven. Hatte sich offenbar vom Dauer-Minne-Sänger Hansi betören lassen und jauchzte ununterbrochen „Hosianna“, so dass ich beschloss, auch Namenlos, sowie vorher Loisl, den Mund zu verbinden. Dazu war aber eine Engelzertrümmerung nötig:
Namenlos erschrak sich durch diese Aktion so sehr, dass es für eine Weile stumm blieb. So ersparte es sich die Mundbinde!

Befreiter aber stummer Engel
8 Stunden inzwischen gelaufen und immer noch 10 km zu gehen. Gut zwei Stunden fehlten noch bis Passau. Der Himmel graute schon. Noch ein paar schöne Fotos am wieder ruhigen, fast romantisch stillen Inn.

Herrliche Abendstimmung

Blaue Stunde auch für weiße Schwäne
Kaputt wie selten gegen 19 Uhr in Passau eingelaufen.
Hansi hörte endlich auf, die Flöte zu traktieren und rang sich sogar zu einem Lob durch. Das hätte er einem Städter wie mir nicht zugetraut. Mit 16 kg Gepäck fast 40 Kilometer zu marschieren. Das stimmt. Ich war selbst stolz auf mich. Nur – wiederholen möchte ich die Tor(Tour) so schnell nicht. Muss in Zukunft kürzere Strecken gehen.
Riesendurst: Helles von Hacklberg. Passauer Brauerei (seit 1618). Würzig, leicht süßliche Note. Gut (2,80 Euro). Hacklberg ist wohl im Besitz des Passauer Bistums. Also ein sehr katholisches Bier!

Gleich drauf: Ein Bio Bier / Helles.
Gutsbräu Straßkirchen (3 Euro). Deutlich besser als das Hacklberg. Würziger, das Malz nicht so süßlich. Bier hatte langen Abgang (wie der Weinkenner sagen würde). Hat wohl höheren Alkoholgrad. Muss das im Internet nachforschen.

Riesenhunger: Fisch mit Senfsauce, Brokkoli und Reisbällchen. Totaler Reinfall. War zwar Bio-Restaurant, schmeckte aber nach Iglu-Stäbchen. Donaufisch gab es eh nicht, also Scholle. Schlechter kann man nicht kochen, ohne Salz, ohne Gewürze, ohne Pfiff. Grauenhaft und überteuert (11,80 Euro). Hab mich seit langem mal wieder beschwert.

Mitternacht:

Es wird langsam eng im Bett
Unterkunft in der Altstadt: 55 Euro (mit Frühstück).